Frankfurt Oder, den 16.09.2018
Unsere Tochter Kerstin war seit Ihrer Geburt geistig behindert.
Die Kindertagesstätte besuchte Sie bis zu Ihrem vierten Lebensjahr. Finanziell war es uns nicht möglich, dass meine Frau daheim blieb und so ging Sie einer geregelten Arbeit (was in der DDR typisch war) nach. Aus diesem Grund war Kerstin bis zu Ihrem 12. Lebensjahr in zwei verschieden Tagesstätten untergebracht. Der tägliche Transport zwischen Wohnung/ Einrichtung und zurück war für uns immer eine große Herausforderung.
Vom 12. bis zum 20. Lebensjahr konnten wir für Kerstin einen vollstationären Heimplatz in der Wohnstätte Vergißmeinnicht, in Eisenhüttenstadt ergattern.
Diese Wohnstätte war zu DDR Zeiten für Kinder bis zum vollendeten 18. Lebensjahr zuständig. Danach wurden behinderte Menschen in Altersheim integriert. Eine gängige Methode, jedoch für die Betroffenen eine unglaubliche Zumutung.
Die Unterbringung im Haus Vergißmeinnicht war für uns eine große Erleichterung. Gemeinsam mit meiner Frau haben wir 17 Jahre lang zwei behinderte Kinder betreut/ gepflegt. Der Platz in dieser Einrichtung war sehr gut. Durch Glück und sicherlich auch strategisches Geschick der Heimleiterin Frau Rosemarie Gauger, war es möglich Kerstin bis zu Ihrem 20. Lebensjahr in dieser Wohnstätte unterzubringen. Doch auch unsere Tochter ereilte das Schicksal vieler junger behinderter Menschen in der DDR, Sie musste in ein Altenheim umziehen. Eine furchtbare Zeit für alle Beteiligten.
Dank der Wiedervereinigung im Jahr 89 konnte Kerstin in die Wohnstätte Vergißmeinnicht zurückkehren. Die Heimleiterin Frau Gauger war sehr rührig und so wurden unter Ihrer Führung Umbauten vorgenommen, Neubauten errichtet und damit die Lebensqualität der Bewohner stetig verbessert.
Mit den Jahren entstanden neuen Einrichtungen der Lebenshilfe im Ludmilla-Hypius-Weg 1 und der Maxim-Gorki-Straße 25b. Kerstin zog mit ihren Freunden in die City WG um. Ein schönes großes Einzelzimmer stand hier für Sie zur Verfügung. Die Wohnstätte hat einen großen Garten und bietet viel Platz zum verweilen. Zwei betriebseigene Busse standen den Bewohnern zur Verfügung. Mit diesen wurden nun öfters Ausflüge und Urlaubsfahrten unternommen.
Eine neue Herausforderung für Kerstin war der tägliche Besuch der neu eröffneten Oder-Neiße Werkstätten der Lebenshilfe. Eine geregelte Arbeit für behinderte Menschen. Unter Anleitung lernte Sie dort Tätigkeiten auszuführen, welche sicherlich einen weiteren Schritt in Ihrer Entwicklung darstellten.
Ihren 50. Geburtstag haben wir in der City WG ganz groß gefeiert. Mit Kaffee und Kuchen, einer sich anschließenden Grillparty und als Höhepunkt eine hauseigene Kultureinlage. Es wurde viel gelacht und dieser Tag wird dem ein oder Anderen sicherlich noch lange in Erinnerung bleiben.
Am 19. Juni 2018 verstarb unsere Tochter Kerstin im Krankenhaus Eisenhüttenstadt. Die Beisetzung fand in unserem Heimatort statt. Die Heimleiterin Frau Gauger und Betreuer(innen) der Wohnstätte Vergißmeinnicht und City WG kamen vorbei um Abschied zu nehmen.
Das hat uns sehr gefreut.
Der Verein der Lebenshilfe hat uns in vielerlei Hinsicht geholfen. Den Mitgliedern des Vereins steht z.B.: eine Rechtsanwältin unentgeltlich zur Seite. Diese hat uns persönlich unterstützt und wiederholt erfolgreich zu unserem Recht verholfen.
Unsere Tochter war ca. 32 Jahre lang in der Einrichtung Vergißmeinnicht bzw. City WG der Lebenshilfe (auch wenn die Lebenshilfe erst 1990 in Eisenhüttenstadt gegründet wurde). Zwischen der Heimleitung, den Betreuern und uns hat immer ein sehr gutes Verhältnis bestanden.
Kurt Friedrich